"Wozu heute noch justizielle Verfolgung von NS-Tätern? - "Nachkriegsprozesse als Bestandteil von Transitional Justice und als Impulsgeber für die NS-Forschung"

"Wozu heute noch justizielle Verfolgung von NS-Tätern? - "Nachkriegsprozesse als Bestandteil von Transitional Justice und als Impulsgeber für die NS-Forschung"

Organisatoren
Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
27.11.2008 - 28.11.2008
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Von
Claudia Kuretsidis-Haider, Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Zentralenösterreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz

Die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz wurde am 15. Dezember 1998 mit dem Ziel gegründet, durch die Erfassung und Erschließung der Akten der Staatsanwaltschaften und Gerichte die Auseinandersetzung der österreichischen Justiz mit den NS-Verbrechen zu dokumentieren, zur Sicherung dieses Teils des europäischen Rechtskulturerbes beizutragen und die historische Erfahrung in die Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart einzubringen. Anlässlich ihres zehnten Jahrestages führte die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am 27. und 28. November 2008 im Bundesministerium für Justiz in Wien eine internationale Podiumsdiskussion und eine Fachtagung durch.

Die Podiumsdiskussion am Donnerstag, den 27. November widmete sich der Frage: „Wozu heute noch justizielle Verfolgung von NS-Tätern?“. Die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen war in Österreich bis 1955 eigenen Gerichten (den „Volksgerichten“) übertragen. Nur wenige NS-Prozesse fanden, wie MARION WISINGER (Wien) beklagte, bis 1975 statt, nur vereinzelt wurden bis in die Gegenwart Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter geführt. VIKTOR EGGERT (Wien) merkte an, dass auch nach dem Tod des letzten Angeklagten die Möglichkeit nicht auszuschließen ist – wie der Fall der ehemaligen Aufseherin Erna Wallisch des Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin-Majdanek im vergangenen Jahr zeigte – dass Tatverdächtige bekannt werden. 2007 hat Maria Berger, die damalige Bundesministerin für Justiz, außerdem eine Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der international gesuchten NS-Täter Alois Brunner und Aribert Heim führen, ausgesetzt. EFRAIM ZUROFF (Jerusalem) würdigte zwar die Bemühungen der scheidenden Justizministerin, bezweifelte aber, dass diese eine nachhaltige Änderung der Haltung Österreichs zur Bestrafung von NS-Verbrechern ausdrückt. Als Beleg führte er falsche Angaben zu Aribert Heim auf der Website des österreichischen Bundeskriminalamtes an. HERMANN FRANK MEYER (Brüssel), der in Südosteuropa mehrere Hundert von deutschen Einheiten zerstörte Dörfer besucht hatte, wies darauf hin, dass kein einziges der von ihm dokumentierten Massaker zu einer Anklage vor einem deutschen oder österreichischen Gericht in den vergangenen Jahrzehnten geführt hatte.

Einigkeit herrschte über die von PETER STEINBACH (Berlin) geäußerte Ansicht, dass die Strafverfolgung von Verbrechen, die zur Zeit ihrer Begehung staatlich angeordnet oder geduldet wurden, ein Indikator für den Umgang des demokratischen Rechtsstaats mit vergangenem Unrecht sind. Die Ermittlungen in derartigen Strafverfahren haben auch in jenen Fällen, in denen Tatverdächtige nicht vor Gericht gestellt werden konnten, der Geschichtswissenschaft wertvolle Quellen über die nationalsozialistische Diktatur gesichert, die auch von zivilgesellschaftlichen Initiativen zur Bewahrung des Andenkens an die Opfer der Gewaltherrschaft genutzt werden.

Die internationale Fachtagung am Folgetag widmete sich dem Thema "Nachkriegsprozesse als Bestandteil von Transitional Justice und als Impulsgeber für die NS-Forschung". Panel 1 befasste sich mir dem Stellenwert des Gerichtsakts als Geschichtsquelle. Die Vortragenden belegten dessen Konservierung und Nutzbarmachung für die historische und politikwissenschaftliche Forschung. WITOLD KULESZA (Lodz) analysierte den Gerichtsakt als Geschichtsquelle am Beispiel polnischer Nachkriegsprozesse. Generaldirektor LORENZ MIKOLETZKY (Wien) erläuterte die Abgabepraxis der österreichischen Justiz. Im Österreichischen Staatsarchiv werden nur Akten der obersten Justizbehörden sowie bestimmter besonderer Gerichtsformen aufbewahrt. Abschließend behandelten drei Beiträge die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg. Deren ehemalige Leiter WILLY DRESSEN (Ludwigsburg) schilderte aus persönlicher Erfahrung die Ermittlungsschwierigkeiten der Zentralen Stelle in den ersten anderthalb Jahrzehnten ihrer Tätigkeit. Deren jetziger stellvertretende Leiter JOACHIM RIEDEL (Ludwigsburg) betonte den Quellenwert von Justizakten generell für die historische Forschung. WOLFRAM PYTA (Stuttgart) erläuterte die Durchsetzung des Ludwigsburger Drei-Säulen-Modells (Staatsanwaltschaft, Archiv, Forschungsstelle), durch das die drohende Schließung der Zentralen Stelle nach der absehbaren Beendigung ihrer staatsanwaltschaftlichen Aufgaben verhindert werden konnte. Die vorgetragenen Statements zeigten auf, dass auch Ermittlungsverfahren, in denen Tatverdächtige nicht vor Gericht gestellt werden konnten, der Geschichtswissenschaft wertvolle Quellen gesichert haben.

In Panel 2 wurde die Frage aufgeworfen, ob die „Vergangenheitsbewältigung“ durch Strafverfahren ein Auslaufmodell oder aber wesentlicher Bestandteil eines Transitional Justice-Prozesses sei. Der Begriff Transitional Justice subsumiert – wie WOLFGANG FORM (Marburg/Lahn) darlegte – unter anderem Formen justizieller Ahnungsmechanismen von Menschenrechtsverletzungen im Zuge von gewaltsam ausgetragenen Konfliktsituationen, Methoden der historischen Aufklärung dieser Verbrechen beispielsweise durch Wahrheitskommissionen und Formen der Entschädigung für die Opfer der begangenen Menschenrechtsverletzung. KLAUS MARXEN (Berlin) schlug in seinem Thesenpapier vor, die Übergangsprozesse in der ostdeutschen Gesellschaft mit dem von der Transitional Justice-Forschung entwickelten Instrumentarium zu analysieren. Ein in Europa weitgehend unbekanntes Beispiel von "verspäteter" Transitional Justice in Südkorea präsentierte MARTIN F. POLASCHEK (Graz). Vor wenigen Jahren begann in Südkorea der Versuch, die Jahrzehnte der japanischen Besatzungszeit "aufzuarbeiten", indem die damaligen Kollaborateure bloßgestellt wurden und versucht wurde, Entschädigungszahlungen für unrechtmäßig erworbene Vermögen durchzusetzen. In der abschließenden Diskussion wurde insbesondere die Frage diskutiert, inwieweit die gescheiterte justizielle Aufarbeitung der Verbrechen des Ersten Weltkrieges als früher Versuch von Transitional Justice angesehen werden kann, wobei es vor allem Meinungsverschiedenheit bezüglich der Frage gab, ob die Verbrechen des Ersten Weltkrieges (Massenerschießungen von Serben und Ruthenen) mit den NS-Verbrechen des Zweiten Weltkriegs vergleichbar seien.

In Panel 3 diskutierten die Referent/innen die Auswirkungen und Einflüsse der Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen auf heutige Prozesse wegen Humanitätsverbrechen. REINHARD MERKEL (Hamburg) warnte eindringlich vor der inflationären Ausweitung des Begriffes Völkermord – eine Tendenz, die schon im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofes angelegt ist, wenn der Tatbestand "Genozid" nicht mehr notwendig mit systematischen staatlichen Maßnahmen verknüpft wird. ROLAND MIKLAU (Tirana) zeigte in seinem Vortrag deutlich die Schwierigkeiten bei der Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Herausforderung für das Strafrecht auf. ASTRID REISINGER CORACINI (Graz) belegte anhand von Einzelbeispielen einleuchtend den Einfluss von Urteilen der Nachkriegsjustiz auf die Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts insbesondere in den 1990er-Jahren. Damit hob sie die Bedeutung der Auseinandersetzung mit den in der unmittelbaren Nachkriegsjustiz durchgeführten Prozessen auf nationaler und internationaler Ebene hervor.

Als Fazit beider Veranstaltungstage lässt sich formulieren: Unabhängig vom Ausgang der jeweiligen Gerichtsverfahren ist die Strafverfolgung von Verbrechen, die zur Zeit ihrer Begehung staatlich angeordnet oder geduldet wurden, ein Indikator für den Umgang des demokratischen Rechtsstaats mit vergangenem Unrecht. Die strafrechtliche Ahndung schwerer Humanitätsverbrechen im Zuge von kriegerischen oder anderen gewalttätigen Auseinandersetzungen ist ein wesentlicher Bestandteil von Transitional Justice. Die gesellschaftliche und wissenschaftliche Auseinadersetzung damit ist, auch wenn seit ihrer Begehung schon Jahrzehnte vergangen sind, notwendig, um Lehren aus dieser Vergangenheit zu ziehen, die der Lösung vergleichbarer Probleme in gegenwärtigen und zukünftigen justiziellen Übergangsprozessen dienlich sein können.

Konferenzübersicht:

Podiumsdiskussion:
"Wozu heute noch justizielle Verfolgung von NS-Tätern?"

Teilnehmer/innen:

Viktor Eggert, Österreich (Bundesministerium für Justiz Abteilung IV/3, Strafsachen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sowie nach dem Verbotsgesetz)

Hermann Frank Meyer, Deutschland (Mitbegründer von Amnesty International Belgien; Sachbuchautor über den 2. Weltkrieg in Südosteuropa – vor allem in Griechenland)

Peter Steinbach, Deutschland (Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim sowie wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin)

Marion Wisinger, Österreich (Historikerin und Politologin)
Efraim Zuroff, Israel (Simon Wiesenthal Center Jerusalem)

Diskussionsleitung:
Friedrich Forsthuber, Österreich (Vertreter der Medienstelle beim Oberlandesgericht Wien)

Internationale Fachtagung
„Nachkriegsprozesse als Bestandteil von Transitional Justice und als Impulsgeber für die NS-Forschung“

Panel 1:
Der Gerichtsakt als Geschichtsquelle

Dick de Mildt, Niederlande (Ex Post Facto Productions; Mitherausgeber der Urteilssammlung „Justiz und NS-Verbrechen“)

Willy Dressen, Deutschland (ehemaliger Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg)

Witold Kulesza, Polen (Universität Łódź, ehemaliger Leiter der Hauptkommission zur Verfolgung von Verbrechen am polnischen Volk)

Lorenz Mikoletzky, Österreich (Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs)

Wolfram Pyta, Deutschland (Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart)

Joachim Riedel, Deutschland (Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg)

Moderation:
Winfried R. Garscha, Österreich (Zentrale Forschungsstelle Nachkriegsjustiz)

Panel 2:
„Vergangenheitsbewältigung“ durch Strafverfahren – ein Auslaufmodell oder wesentlicher Bestandteil des Transitional Justice-Prozesses?

Klaus Marxen, Deutschland (Humboldt-Universität zu Berlin)

Martin F. Polaschek, Österreich (Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Karl-Franzens-Universität Graz)

Wolfgang Form, Deutschland (Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse, Marburg/Lahn)

Moderation:
Otto Triffterer, Österreich (Universität Salzburg Institut für Strafrecht und Strafverfahrensrecht; Verfasser des Kommentars zum Rom-Statut für den Internationalen Strafgerichtshof)

Panel 3:
Auswirkungen und Einflüsse der Prozesse wegen NS-Gewaltverbrechen auf heutige Prozesse wegen Humanitätsverbrechen

Reinhard Merkel, Deutschland (Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg)

Roland Miklau, Österreich (Leiter der EU-Mission EURALIUS in Tirana)

Astrid Reisinger Coracini, Österreich (Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen, Universität Graz)

Moderation:
Claudia Kuretsidis-Haider, Österreich (Zentrale Forschungsstelle Nachkriegsjustiz)

Kontakt

Claudia Kuretsidis-Haider
Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
Wien

E-Mail: kuretsidis@hotmail.com


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